21. Februar 2023

„Dunkle Energie“: eine Verdrillung der Raumzeit?

Neue Einsichten über Raum und Zeit liefert eine mathematisch inspirierte Erweiterung der Einstein’schen Allgemeinen Relativitätstheorie, entwickelt am FIAS. In ihren aktuellen Veröffentlichungen beschreiben David Vasak et al., wie die Torsion der Raumzeit die Dunkle Energie der Standardkosmologie erklären kann.

Das Urmodell für die Physik von Raum, Zeit und Materie ist die Allgemeine Relativitätstheorie, die Einstein vor mehr als hundert Jahren postulierte. Seine Feldgleichung beschreibt die Gravitation als Krümmung der Raumzeit, die ihrerseits durch die Präsenz von Materie verursacht wird. Sie sieht auf den ersten Blick einfach aus, beherbergt aber Dutzende gekoppelter nichtlinearer partieller Differenzialgleichungen - ein mathematischer Albtraum. Trotzdem ist sie bis heute das Maß aller Dinge für die meisten Astrophysiker und Kosmologen, und zweifellos auch beherrschend in der Wahrnehmung der Medien und der interessierten Öffentlichkeit.

Doch die Relativitätstheorie erfuhr ihre Grenzen, als man die beobachteten großen Strukturen im Weltraum erklären wollte. Das sind z.B. die Rotation von Galaxien und Galaxienhaufen und nicht zuletzt die explosive Dynamik des Universums als Ganzes. Da reichte der "nackte" Einstein´sche Ansatz nicht mehr. Das Modell wurde durch fiktive "Dunkle Materie" und durch die mysteriöse "Dunkle Energie" ergänzt. Was diese unsichtbaren, unfühlbaren "dunklen" Bestandteile unserer Welt sind, konnte man allerdings trotz enormer Anstrengungen bisher nicht schlüssig erklären. Insbesondere das „Problem der Kosmologischen Konstanten“ gilt als die bisher größte Unstimmigkeit der theoretischen Physik: Der ermittelte Wert der kosmologischen Konstanten - einer von Einstein eingeführten Größe zur Erklärung der „Dunklen Energie“ – weicht vom aus der Feldtheorie der Elementarteilchen berechneten Wert um 120 Größenordnungen ab.

Die Forschungsgruppe Kanonische Gravitationstheorie am FIAS verfolgt einen anderen Weg: Abweichend von Einsteins intuitivem Vorgehen und auch jenseits willkürlicher Modifikationen der physikalischen Theorien, setzt die Gruppe um FIAS-Fellow Jürgen Struckmeier konsequent die stringente Sprache der Mathematik ein, um eine neue, mathematisch konsistente und physikalisch wohl begründete Theorie der Gravitation abzuleiten. 

Im Einklang mit Einstein werden dabei zunächst zwei seiner fundamentalen Prinzipien übernommen, das Allgemeine Relativitätsprinzip und das Äquivalenzprinzip. Ersteres besagt, dass die Dynamik eines physikalischen Systems unabhängig davon ist, wer es beobachtet. Steht beispielsweise eine Tasse auf dem Tisch, ist ihr Ort unabhängig davon, ob ein Beobachter rechts von ihr oder links steht und ihren Ort in seinem "Koordinatensystem" beschreibt. Koordinaten sind relativ, und das sogar, wenn sich der Beobachter entlang einer beliebigen möglicherweise sogar gekrümmten Bahn bewegen. Das Äquivalenzprinzip hingegen ist das Ergebnis von Einsteins Gedankenexperiment: Ein Beobachter in einem fensterlosen Aufzug kann nicht feststellen, ob der Aufzug im schwerelosen Weltraum mit der Erdbeschleunigung "g" nach oben beschleunigt wird oder ob der Aufzug im Gravitationsfeld der Erde ruht. In beiden Fällen wird der Beobachter mit derselben Kraft auf den Boden des Aufzugs gedrückt. Gravitation und Beschleunigung sind lokal nicht unterscheidbar. Zu diesen physikalischen Postulaten kommen weitere Annahmen hinzu, die die mathematische Beschreibung physikalischer Systeme im Einklang mit den uns bekannten phänomenologischen Merkmalen erfordern.

Mit diesen Annahmen ist es nun möglich, die „Kanonische Transformationstheorie“ anzuwenden, um physikalisch motivierte Symmetrien der zu beschreibenden Systeme zu erzwingen. Das Neue an der im FIAS entwickelten Vorgehensweise ist, dass sie diese zunächst einfache Methodik auf lokale Symmetrien in relativistische Feldtheorien verallgemeinert. Verblüffender Weise kann man damit das gesamte von Chen Yang und Robert Mills entwickelte Standardmodell der Elementarteilchen ableiten und die drei Grundkräfte der Natur, elektromagnetische, schwache und starke Wechselwirkung, als sogenannte Eichfelder formulieren.

Das zu zeigen war für die Gruppe aber nur das proof of concept, um es umgehend auf die vierte Grundkraft der Natur, die Gravitation anzuwenden. Als Eichfelder und somit als Träger der Gravitationswechselwirkung wurden dabei die „Zusammenhangskoeffizienten“ identifiziert. Diese quantifizieren die Abweichung der Bahn eines Teilchens in gekrümmter Geometrie von einer geraden Linie. Das legt auch die Kopplung von Materie und Gravitation eindeutig fest. 

Dieser methodische Ansatz der FIAS-Gruppe, die Kovariante Kanonische Eichgravitation (Covariant Canonical Gauge Gravity, CCGG), liefert eine neue Dynamik der Raumzeit. Raumzeit wird zu einem trägen elastischen Medium, das im Gegensatz zur Einstein’schen Formulierung der Verteilung der Materie nicht unmittelbar folgt. Ferner wird die Torsion als ein zusätzlicher Freiheitsgrad der vierdimensionalen Raum-Zeit-Geometrie zugelassen. Ein einfaches Bild einer Torsion liefert ein Luftballon, dessen Hülle die auf zwei Dimensionen reduzierte Raumzeit darstellt. Presst man nun ein Streichholz mit einer klebrigen Spitze fest auf die Ballonhaut und dreht, wird diese Haut lokal verdrillt. Lässt man los, federt die Ballonoberfläche von selbst in ihren ursprünglich glatten Zustand zurück. Offensichtlich wurde durch die Verdrillung und die Oberflächenspannung des Ballons Energie gespeichert und wieder freigegeben.

Ferner – entgegen der Überzeugung von Einstein – folgt aus dem Formalismus, dass die Gesamtenergie des Universums null sein muss. Die Energiedichten des Mediums Raumzeit und der darin verteilten Materiefelder müssen sich aufheben, ähnlich wie Deformationen eines Festkörpers eine Gegenreaktion seiner Kristallstruktur hervorrufen. Das Universum kann also aus dem Nichts entstanden sein, möglicherweise in Form eines „Urknalls“, wobei die (positive) Energie der Materie stets durch die (negative) Energie der Raumzeit kompensiert werden muss. Dies erklärt, warum die bisherige Berechnung der kosmologischen Konstanten unvollständig ist. Die Raumzeit selbst besitzt eine Vakuumenergie, die wegen des Kompensationsmechanismus die Vakuumenergie der Materie aufhebt. Der kleine gemessene Wert der kosmologischen Konstanten lässt sich weitgehend durch die Torsion der Raumzeit erklären. Detaillierte Berechnungen am FIAS zeigen, dass die Effekte der Torsion die Dunkle Energie der Standardkosmologie erklären können, welche die für die aktuell beobachtete beschleunigte Expansion des Universums die benötigte repulsive Kraft liefert. 

Weitere numerische Analysen der Parameter der FIAS-Theorie hat die Gruppe begonnen. Zur breiteren Analyse der vorliegenden Daten aktivierte sie das Netzwerk aus Spezialisten von Goethe-Universität und FIAS mit innovativen Methoden etwa der künstlichen Intelligenz (Deep Learning). Damit will das Team den Überraschungen begegnen, die sie künftig vom James Webb-Weltraumteleskop erwartet - und sich dem Geheimnis der Raumzeit weiter nähern.

Publikationen: 

  • David Vasak, Johannes Kirsch, Jürgen Struckmeier, Horst Stöcker: On the cosmological constant in the deformed Einstein-Cartan gauge gravity in De Donder-Weyl Hamiltonian formulation, Astron. Nachr., DOI:10.1002/asna.20220069 (2022)
  • Armin van de Venn, David Vasak, Johannes Kirsch, Jürgen Struckmeier: Torsional dark energy in quadratic gauge gravity, submitted to Eur. Phys. J. (2022), arXiv:2211.11868 [gr-qc]

 

Abbildung: FIAS-Forscher haben Einsteins Theorie erweitert: Johannes Kirsch, Jürgen Struckmeier, Armin van de Venn, David Vasak, Vladimir Denk (v. l. n. r.) - Abbildung zur Verwendung im Zusammenhang mit dieser Pressemitteilung

AG Vasak