7. Oktober 2022
Extrem dichte Masse - Ein Blick in das Innere von Neutronensternen
Neutronensterne sind in ihrem Inneren extrem dicht: Ihre Masse entspricht dem doppelten der Sonne – und das bei einer Größe etwa der Stadt Frankfurt (10-14 km Radius). Daher dienen diese kompakten Objekte als einzigartige Beispiele zur Untersuchung der Eigenschaften dichter Materie. Eine Arbeitsgruppe am Frankfurt Institute for Advanced Studies (FIAS) setzte jetzt Deep-Learning-Techniken ein, um neue Erkenntnisse über das Innere der Sterne zu gewinnen.
Ist der innere Druck der Materie bei einer bestimmten Dichte - die Zustandsgleichung – gegeben, besteht eine eindeutige Beziehung zwischen der Masse und dem Radius eines Neutronensterns. Daher ist es umgekehrt möglich, die unbekannte Zustandsgleichung aus den Masse-Radius-Beobachtungen von Neutronensternen abzuleiten.
Die FIAS-Gruppe entwickelte einen Deep-Learning-Algorithmus, der Neutronenstern-Beobachtungsdaten nutzt, um die zugrundeliegende Zustandsgleichung zu rekonstruieren. Dies ermöglicht eine umfassende Charakterisierung der Gleichung, da neuronale Netze komplexe nichtlineare Wechselbeziehungen in Daten erfassen können. Während herkömmliche Ansätze zur Rekonstruktion der Zustandsgleichung in der Vergangenheit einen bestimmten Algorithmus, die Bayes'sche Inferenz, beinhalteten, nutzen neuere Versuche die überwachte maschinelle Lerninferenz.
In ihrer Arbeit stellen die Forschenden jedoch einen neuartigen, auf Physik basierenden Deep-Learning-Ansatz vor. Er besteht aus einem unbeaufsichtigten, selbständigen Lernalgorithmus im Zuge der automatischen Differenzierung. Die vorgeschlagene Methode wurde an Versuchsdaten getestet und ist in Bezug auf die Berechnungseffizienz bisherigen Algorithmen überlegen [1]. Mit diesem neu entwickelten Algorithmus rekonstruieren sie die Zustandsgleichung von Neutronensternen aus den bisher verfügbaren begrenzten Daten [2]. „So verstehen wir, wie sich Materie bei extrem hoher Dichte verhält“, erklärt Erstautorin Shriya Soma (26), Doktorandin am FIAS. „Wir bekommen eine Vorstellung dieser starken Wechselwirkung, eine der grundlegenden Kräfte in der Physik“.
Das moderne NASA-Teleskop NICER (Neutron Star Interior Composition ExploreR) auf der Internationalen Raumstation soll auf der aktuellen Mission helfen, die bislang großen Unsicherheiten bei der Messung der Radien künftig zu verringern. Zusätzliche Daten von Teleskopen der nächsten Generation und von Gravitationswellendetektoren bieten die Möglichkeit einer genauen Rekonstruktion der Zustandsgleichung und damit unseres Verständnisses des Verhaltens von Materie bei extremen Dichten. Bis dahin liefern Berechnungen wie in den Veröffentlichungen von Shriya Soma et al. eine geeignete Näherung.
Publikationen:
1 - Shriya Soma, Lingxiao Wang, Shuzhe Shi, Horst Stöcker, Kai Zhou, Neural network reconstruction of the dense matter equation of state from neutron star observables, Journal of Cosmology and Astroparticle Physics, Volume 2022, August 2022, IOP Publishing Ltd and Sissa Medialab, https://doi.org/10.1088/1475-7516/2022/08/071
2 - Shriya Soma, Lingxiao Wang, Shuzhe Shi, Horst Stöcker, Kai Zhou, Reconstructing the neutron star equation of state from observational data via automatic differentiation, arXiv:2209.08883 [astro-ph.HE], September 2022, https://doi.org/10.48550/arXiv.2209.08883
Abbildung: Neutronensterne stellen die dichteste Form von Materie dar: die doppelte Masse der Sonne in einem kugelförmigen Volumen von einigen Kilometern Radius (links). Mit Hilfe neuronaler Netze (rechts oben) entwickelte die Gruppe am FIAS einen Algorithmus, der die makroskopischen Eigenschaften von Neutronensternen (insbesondere die Massen und Radien) nutzt, um die entsprechenden mikroskopischen Größen, also die zugrunde liegende Zustandsgleichung, zu erhalten (rechts unten).