4. Juni 2025
Nachbarschaftshilfe im Gehirn: Nervenzellen springen bei Verlust ein
Ein bislang unbekannter Mechanismus erlaubt Netzwerken im Gehirn, sich nach einer Schädigung neu zu organisieren.
Wie das Gehirn seine Funktion bei einem Verlust von Nervenzellen weitgehend aufrechterhält, entschlüsselten Forschende der Universitätsmedizin Mainz, des Frankfurt Institute for Advanced Studies (FIAS) und und der Hebrew University (Jersusalem). Sie zeigen, dass sich neuronale Netzwerke in der Großhirnrinde innerhalb kurzer Zeit reorganisieren, indem andere Nervenzellen die Aufgaben der verlorenen Neurone übernehmen. Diese Erkenntnisse könnten die Grundlage für zukünftige Forschung zu natürlichen Alterungsprozessen und neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer oder Parkinson bilden. Die Studie erschien in der renommierten Fachzeitschrift Nature Neuroscience.
Nervenzellen (Neuronen) sind die wichtigsten Bausteine des Gehirns. Sie stellen die Basis für alle geistigen und körperlichen Funktionen wie Denken, Fühlen, Bewegung und Wahrnehmung dar. Im Laufe des Lebens können Nervenzellen im Gehirn aus verschiedenen Gründen verloren gehen: Sie sterben durch altersbedingte Prozesse ab, kommen durch Gifte wie Alkohol zu Schaden, oder neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer und Parkinson führen zu einem schneller fortschreitenden Verlust von Neuronen.
Während die meisten Körperorgane alte oder beschädigte Zellen regelmäßig durch neue ersetzen, um ihre Organfunktion aufrechtzuerhalten, bilden sich im Gehirn neue Neuronen nur in bestimmten Regionen. In der Großhirnrinde (Kortex), die für komplexe Denkprozesse und die Wahrnehmung verantwortlich ist, ist die Fähigkeit zur Neubildung von Nervenzellen im Erwachsenenalter sehr eingeschränkt. „Dennoch zeigt sich die kortikale Gehirnfunktion in klinischen Untersuchungen oft überraschend widerstandsfähig gegenüber einem Neuronenverlust, der im Verlauf des Alterns oder bei neurodegenerativen Erkrankungen entsteht“, erläutert Simon Rumpel, Leiter der AG Systemische Neurophysiologie am Institut für Physiologie der Universitätsmedizin Mainz.
Bisher war nicht bekannt, wie das Gehirn den Verlust von Nervenzellen kompensieren und seine Funktion aufrechterhalten kann. Um das herauszufinden, untersuchte das Forschungsteam im Tiermodell die neuronalen Netzwerke im Auditorischen Kortex, der für die Verarbeitung von akustischen Reizen verantwortlich ist. Grundlage für die Wahrnehmung von Geräuschen sind Aktivitätsmuster, die im Gehirn durch akustische Reize hervorgerufen werden. Diese Muster sind sehr komplex. AM FIAS trugen Doktorand Bastian Eppler und Senior Fellow Matthias Kaschube mit ihrer Expertise wesentlich zur Analyse dieser Daten und der Interpretation der Ergebnisse bei.
Die Forschenden fanden heraus, dass sich die Aktivitätsmuster bei einem gezielt hervorgerufenen Verlust von nur wenigen spezifischen Nervenzellen zunächst destabilisieren. Dies deutet darauf hin, dass sich das für die Geräuschwahrnehmung zuständige neuronale Netzwerk in einer empfindlichen Balance befindet. Bereits nach wenigen Tagen bilden sich sehr ähnliche Aktivitätsmuster neu. Die Nervenzellen, die zuvor nicht durch die verwendeten akustischen Reize aktiviert wurden, erlangen nun die Fähigkeit, an die Stelle der verlorenen Neuronen zu treten.
„Wir nehmen an, dass dieser neu entdeckte neuronale Mechanismus eine wichtige Rolle für den Verlust von Nervenzellen bei natürlichen Alterungsprozessen sowie bei neurodegenerativen Erkrankungen spielt“, so Rumpel. Zukünftige Forschungsanstrengungen könnten darauf abzielen, diese neuronale Reorganisation zu unterstützen.
Publikation: Takahiro Noda, Eike Kienle, Jens-Bastian Eppler, Dominik F. Aschauer, Matthias Kaschube, Yonatan Loewenstein, Simon Rumpel: Homeostasis of a representational map in the neocortex; Nature Neuroscience (2025), DOI: 10.1038/s41593-025-01982-7
