3. Februar 2025
Sehen lernen: Eine Mischung aus Vorgaben und Erfahrung
Internationale Forschung zum "Durchblick" untersucht anpassungsfähiges Gehirn
Das Gehirn ist schon vor dem ersten Augenöffnen gewappnet: Bestimmte Muster sind in der Verschaltung der Neuronen vorgegeben. Aber es bedarf einiger Tage Erfahrung des Sehens, um die Netzwerke so umzustrukturieren, dass ein konstanter Seheindruck entsteht. Das zeigen Forschende des FIAS zusammen mit Kollegen aus Florida in einer in Nature Neuroscience veröffentlichten Studie.
Wie Neugeborene das Sehen lernen, ist die zentrale Frage der Forschung von Sigrid Trägenap, Doktorandin in der Gruppe von FIAS-Senior-Fellow Matthias Kaschube. Das Gehirn ist bereits vor Öffnen der Augen vorstrukturiert für Sehreize. Doch was passiert, wenn beim ersten Augenöffnen echte Informationen auf diese Strukturen stoßen? Aus bisherigen Messmethoden schloss man, dass die Antworten des jungen Gehirns schwach und unorganisiert seien. Doch die neuen Untersuchungen am FIAS zeigen, dass die neuronalen Antworten bereits enorm strukturiert sind. Auf neue Reize reagieren sie allerdings erstmal erstaunlich variabel. Es dauert einige Tage, bis der gleiche Reiz eine verlässliche Antwortspur in den Neuronen hinterlässt. Dann erst wird ein Bild „erkannt“.
Am FIAS wertete Trägenap die Daten aus, die David Whitney aus der Arbeitsgruppe von David Fitzpatrick am Max-Planck-Florida-Institut für Neurowissenschaften in Jupiter (Florida, USA) sammelte. Sie arbeiten mit Frettchen, die erst einen Monat nach der Geburt die anfangs geschlossenen Augen öffnen. Ihnen präsentierten die Forschenden schwarz-weiße Bilder auf Bildschirmen und beobachteten mit Fluoreszenzmikroskopen, welche Neuronen dabei aktiv sind. Die äußerst komplexen Daten wertete Trägenap am FIAS aus und erstellte ein mathematisches Modell, um sie zu beschreiben.
Solange die Augen geschlossen sind, bilden sich nicht-spezifische Muster in der Sehrinde, sodass man nicht auslesen kann, welches Bild präsentiert wurde. Erst mit der Öffnung werden die Reaktionen verlässlich und zeigen eine bevorzugte Aktivität. Aus den Daten und aufwendigen Modellierungen schließt Trägenap, dass die vorstrukturierten neuronalen Netzwerke eine Art „Erwartungshaltung“ haben – die sich aber dann nicht vollständig mit dem tatsächlichen Bildreiz decken. Nach einigen Tagen bildet sich eine Mischform, bei der sich die alte Struktur durch den neuen Impuls verändert: die Neuronenverbindungen arrangieren sich um und passen sich den neuen visuellen Reizen an.
Moderne Sensoren erlauben die Untersuchung der Gehirnfunktionen in kurzen Zeitskalen eines Wimpernschlags und winzigen Abständen, vergleichbar der Dicke einer Frischhaltefolie. „Die dabei gemessenen Muster sind mit dem Auge nicht mehr auszuwerten“, erklärt die Doktorandin die Bedeutung ihrer aufwendigen Computerberechnungen. Aus den vorliegenden Daten kann sie so detailliert die Veränderungen im Gehirn auswerten und Modelle mit dem Computer simulieren.
Zu klären ist nun, ob diese Erkenntnisse für alle Gehirnstrukturen gelten, ob auch Formen, Farben und andere Sinneseindrücke so geprägt werden. „Und wir können die Erkenntnisse nutzen um auszuprobieren, ob auch KI-Systeme schneller lernen, wenn man ihnen Struktur vorgibt wie beim Neugeborenen-Gehirn,“ erklärt Trägenap. Es werde jedenfalls deutlich, dass das Gehirn auf der Basis von altem Wissen immer Neues lernen könne. „Probieren, Erfahrungen sammeln und ein eigenes System für das beste Lernen finden“ rät die Neurowissenschaftlerin anhand ihrer Erkenntnisse – und das lebenslang: Neues verarbeiten und Anpassung sei in den Gehirnstrukturen immer möglich.
Publikation:
Sigrid Trägenap, David E. Whitney, David Fitzpatrick und Matthias Kaschube, The developmental emergence of reliable cortical representations. Nature Neuroscience (2025). https://www.nature.com/articles/s41593-024-01857-3
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