18. Januar 2021
Warum es wichtig ist, dass möglichst viele Menschen ihre Kontakte reduzieren
Mathematische Modelle zur Erklärung der nichtpharmazeutischen Kontrolle von COVID-19
Fast ein Jahr nach Beginn der COVID-19-Pandemie befindet sich Deutschland im dritten harten Lockdown, der sich als Erweiterung und Verschärfung der im November 2020 eingeführten Maßnahmen ergeben hat. Viele Menschen machen sich Gedanken über die Wirksamkeit und Dauer der derzeit geltenden strengen Maßnahmen. Um zu veranschaulichen, dass es für die erfolgreiche Bekämpfung der Pandemie wichtig ist, dass möglichst viele Menschen ihre Kontakte reduzieren, simulieren wir hier den Verlauf der Fallzahlen. Zu diesem Zweck wird ein einfaches mathematisches Modell verwendet, wobei insbesondere davon ausgegangen wird, dass nur ein Teil der Bevölkerung bestimmte Kontaktbeschränkungen einhält.
Die unten aufgeführten Simulationen zeigen eine fiktive Situation, die jedoch der Infektionslage in Deutschland im Frühherbst sehr nah kommt. Wir verfolgen eine anhaltende COVID-19-Welle unter milden Maßnahmen zur Kontaktreduktion für 10 Wochen. Die Reproduktionszahl für diese milden Maßnahmen beträgt 1,5, was ungefähr dem vom Robert Koch-Institut (RKI) für Herbst 2020 geschätzten Wert entspricht. Einschränkungen werden als de-facto-Reduktion der Kontakte simuliert, die eine niedrigere Reproduktionszahl ab Woche 10 zur Folge haben sollte. Wenn die gesamte Bevölkerung diese Beschränkungen einhielte, würde dies zu einer Reproduktionszahl von 0,75 führen, was sich in exponentiell abnehmenden Fallzahlen zeigen würde. Dies ist eine idealisierte Situation, da es nicht realistisch ist anzunehmen, dass die gesamte Bevölkerung ihre Kontakte in gleichem Maße reduziert – ob nun aufgrund persönlicher Entscheidungen oder wegen wichtiger objektiver Einschränkungen. Man denke beispielsweise an medizinisches Personal und andere in systemrelevanten Berufen Tätige. Auch bei größter Vorsicht kann diese Gruppe ihre Kontakte nicht unter einen bestimmten kritischen Schwellenwert reduzieren. Zudem waren diese Menschen häufig ohnehin strengen Sicherheitsmaßnahmen unterworfen, bevor im Herbst allgemeine Kontaktreduktionen eingeführt wurden. Für unsere Simulationen teilen wir die Gesamtbevölkerung in eine zurückhaltende Gruppe (compliant) und eine weiterhin aktive Gruppe (noncompliant) auf. Während die „compliant“ Gruppe die vorgeschriebenen Kontaktbeschränkungen ("gemäß der Vorschriften") einhält, verhält sich die „noncompliant“ Gruppe wie vor der Kontaktreduzierung. Wir zeigen, wie sich die Anzahl der Fälle nach unserem einfachen Modell entwickeln würde, wenn 5%, 30%, 50%, 80% oder sogar 95% der Bevölkerung die Kontaktbeschränkungen einhielten ("gemäß der Vorschriften"). Die nachfolgenden Abbildungen zeigen die unterschiedlichen Entwicklungen der Fallzahlen für 6 Wochen nach Einführung der Maßnahmen.
Abbildung 1 zeigt neu gemeldete Fälle sowie kumulative Fälle für die verschiedenen Szenarien. Abbildung 2 zeigt in den 6 Diagrammen die Anzahl der neu gemeldeten Infektionen für verschiedene Anteile zurückhaltender Personen, wobei unterschieden wird, ob die neu Infizierten vor ihrer Ansteckung die festgelegten Regeln befolgt haben oder nicht. Wir gehen davon aus, dass sich alle erkannten positiven Fälle als zurückhaltend verhalten und sich selbst isolieren.
Abbildung 1: Tägliche neue Fälle und kumulative Fälle vor und nach den Interventionen. Ab Woche 10 reduzieren Kontaktbeschränkungen die Reproduktionszahl von 1,5 auf einen minimal möglichen Wert von 0,75, vorausgesetzt, die Kontakte in der Bevölkerung werden gleichmäßig reduziert. Wenn nur ein bestimmter Prozentsatz der Bevölkerung die Kontaktreduzierung einhält, können die Maßnahmen die Epidemie möglicherweise nicht eindämmen. Zu dem Zeitpunkt, an dem Maßnahmen beginnen, die Reproduktionszahl Rt zu verringern, gehen wir von etwa 20.000 gemeldeten Fällen pro Tag und etwa 520.000 kumulierten Fällen seit Beginn der Epidemie aus, eine Situation, die ungefähr den deutschen Daten im Oktober 2020 entspricht.
Abbildung 2: Tägliche neue Fälle vor (oben links) und nach Einführung von Kontaktbeschränkungen (Woche 10) unter der Annahme einer 5 bis 95-prozentigen Einhaltung der Maßnahmen. Neu infizierte Personen waren möglicherweise vor der Infektion zurückhaltend (blau) oder weiterhin kontaktfreudig (rot).
Die Simulationen zeigen, dass bei einer Einhaltung von 50% die Einführung der Maßnahmen zu einem Plateau führt, wie es in den gemeldeten Daten vom November 2020 in Deutschland tatsächlich zu sehen war. Dies bedeutet nicht unbedingt, dass 50% der Bevölkerung die November-Maßnahmen (Lockdown light) nicht eingehalten hätten. Sehr ähnliche Bilder können unter verschiedenen Annahmen erzeugt werden, z.B. unterschiedliche Erkennungsquoten und strengere / mildere Maßnahmen bei besserer / schlechterer Einhaltung. In der Realität haben sich verschiedene Personen höchstwahrscheinlich in unterschiedlichem Maße an einzelne Regeln gehalten, anstatt entweder alle Maßnahmen vollständig umzusetzen oder überhaupt keine Regeln einzuhalten. Qualitativ verändern sich die Ergebnisse unter diesen unterschiedlichen Annahmen kaum.
Die offensichtliche Botschaft ist, dass die Kontrolle über den Ausbruch umso schneller erreicht werden kann, je mehr Menschen ihre Kontakte reduzieren. Wenn andererseits viele Menschen die Beschränkungen nicht einhalten, so bleiben die Bemühungen der Anderen lange Zeit erfolglos.
Ein Beitrag von Dr. Maria Barbarossa und Dr. Jan Fuhrmann
Hintergrund
Die Forschungsgruppe von Maria Barbarossa am FIAS arbeitet seit März 2020 in Zusammenarbeit mit Kollegen des Jülich Supercomputing Centre an mathematischen Modellen zur Verbreitung und Kontrolle von COVID-19 in Deutschland. Im Rahmen dieser Kooperation ist im Sommer 2020 das SimLab „Epidemiology & Pandemics“ (Dr. Jan Fuhrmann) am JSC gegründet worden. Die Modelle in ihrer komplexesten Form umfassen Altersgruppen, unterschiedliche Infektionsniveaus und Schweregrade der Erkrankung (z. B. Patienten, die eine Intensivpflege benötigen) und wurden unter anderem verwendet
- zur Vorhersage der Wirkung nichtpharmazeutischen Interventionen während der ersten COVID-19-Welle https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.04.08.20056630v1
https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0238559 - um die Wichtigkeit der Dunkelziffer hervorzuheben (d.h. wie viele Fälle wir über die Gesamtzahl der infizierten Personen entdeckt haben) https://archpublichealth.biomedcentral.com/articles/10.1186/s13690-020-00445-8
- um die Auswirkung des Panikverhaltens kurz vor der Umsetzung strenger Maßnahmen (Lockdown) zu erklären https://www.researchsquare.com/article/rs-82993/v1
- um die Wirkung und Nebenwirkungen eines kurzen Lockdowns vorherzusagen sowie mögliche Kontrollstrategien für die aufkommende zweite Welle im Herbst 2020 vorzuschlagen. Dieses Ergebnis wurde auch anhand der Fall- / Todeszahlen mehrerer Länder wie Frankreich und Irland bestätigt, die Erfahrungen mit einem zweiten strengen Lockdown im Herbst gemacht haben und anschließend eine neue Zunahme der Fälle kurz nach Aufhebung der strikten Maßnahmen zu verzeichnen hatten. https://onlinelibrary.wiley.com/doi/epdf/10.1111/irv.12827
Die Gruppe trägt mit wöchentlichen kurzfristigen Vorhersagen zum am KIT eingerichteten deutschen und polnischen Forecast Hub bei (https://kitmetricslab.github.io/forecasthub/forecast , https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.12.24.20248826v1 ).
Kontakt
Dr. Maria Barbarossa barbarossa_at_fias.uni-frankfurt.de