5. August 2022
Wie erkennt das Gehirn eine Orange?
DFG-Forschungsgruppe zur Abstraktion im Gehirn und besseren KI-Systemen
Wie abstraktes Wissen im Gehirn gespeichert wird, untersuchen Psycholog:innen und Informatiker:innen in der neuen DFG-Forschungsgruppe ARENA. Die Erkenntnisse sollen umgekehrt dazu beitragen, künstlich intelligente (KI)-Systeme effizienter und flexibler zu machen.
Seit künstlich intelligente Systeme Objekte und Sprache zuverlässig erkennen können, erlebt die KI-Forschung einen Boom. Doch nach wie vor müssen die Systeme mit hohem Arbeits- und Energieaufwand trainiert werden – und speichern ihr Wissen über Objekte und Wörter trotzdem anders als das menschliche Gehirn: Moderne KI-Systeme sind in der Regel neuronale Netzwerkmodelle. Sie bestehen aus mehreren Schichten künstlicher Nervenzellen, die miteinander verknüpft sind. Deshalb werden sie auch als tiefe neuronale Netze - deep neural networks - bezeichnet. Ein KI-System, das für die Bilderkennung und die Spracherkennung entwickelt wurde, kann ein Bild von einer Orange (Input) mit dem Wort „Orange“ (Output) verknüpfen. Auf andere Sinneseindrücke verallgemeinern kann ein solches KI-System jedoch nicht – was unser Gehirn dagegen mühelos schafft.
Denn eine der wichtigsten Eigenschaften des menschlichen Gehirns ist die Fähigkeit zur Abstraktion: So kann unser Wissen über eine Orange aktiviert werden, wenn wir sie sehen, fühlen, schmecken oder riechen. Das Gehirn bildet also unser semantisches Wissen über Orangen abstrakt ab – unabhängig davon, wie wir Orangen über die Sinne wahrnehmen.
Diese Art der abstrakten Wissensrepräsentation könnte die KI vom menschlichen Gehirn lernen. Allerdings ist das ‚Format‘, in dem unser semantisches Wissen im menschlichen Gehirn gespeichert ist, noch nicht gut verstanden. Hier wiederum kann die Hirnforschung von den mächtigen KI-Modellen profitieren. Die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte interdisziplinäre Forschungsgruppe ARENA (Abstrakte Repräsentationen in neuronalen Architekturen) am Frankfurt Institute for Advanced Studies (FIAS), der Goethe-Universität und dem Max-Planck-Institut für Softwaresysteme in Saarbrücken schlägt eine Brücke zwischen Informatik, Psychologie und Neurowissenschaften, um diese Fragestellungen zu erforschen. Sie erhält in den kommenden vier Jahren insgesamt rund 3,7 Millionen Euro.
Ein wichtiges Ziel der ARENA-Forschungsgruppe ist es zu untersuchen, ob KI-Systeme, die mit Daten unterschiedlicher Formate – Bilder, Sprache oder Videos, also multimodale Daten – trainiert werden, abstraktere oder zumindest dem menschlichen Gehirn ähnlichere Wissensformen entwickeln.
Prof. Dr. Jochen Triesch vom FIAS wird im Rahmen des Projekts untersuchen, wie KI selbständig abstrakte Repräsentationen von Objekten erlernen kann. "Im Gegensatz zu gängigen KI-Ansätzen soll sie das autonom und ohne Hilfe von außen erreichen", so Triesch, "ähnlich wie ein Kind es erlernt, Objekte zu erkennen und in abstrakte Kategorien zu gruppieren". Sein FIAS-Kollege Prof. Dr. Matthias Kaschube wird untersuchen, wie sowohl das Gehirn als auch KIs "kognitive Karten" nutzen können, um abstrakte semantische Informationen effizient zu verarbeiten. Prof. Gemma Roig fungiert in der Forschungsgruppe als Brückenprofessorin zwischen Informatik und Psychologie.
Die beteiligten Psycholog:innen und Neurowissenschaftler:innen interessiert, wie gut KI-Systeme die Arbeitsweise des Gehirns bei der Verarbeitung abstrakter Bedeutungen erklären können. Dazu wollen sie vergleichen, wie ein KI-System und das menschliche Gehirn arbeiten, wenn sie dieselben Aufgaben lösen. Zur Beantwortung dieser Fragestellung werden KI-Modelle als ein statistisches Werkzeug zur Analyse von Hirnaktivität verwendet, die mit den Methoden der funktionellen Magnetresonanztomographie und der Magnetenzephalographie am Brain Imaging Center der Goethe-Universität während der Bearbeitung von Sprach- und Objekterkennungsaufgaben gemessen werden. Die Forscher:innen erwarten, dass dabei auf dem höchsten Abstraktionsgrad die gleichen Repräsentationen im Gehirn angesprochen werden.
Ein Kernstück dieser Arbeit wird die Erhebung eines sehr großen Datensatzes an Versuchspersonen sein, die in mehreren Untersuchungssitzungen eine ganze Reihe von entsprechenden Aufgaben bearbeiten, während ihre Hirnaktivität gemessen wird. „Der geplante Datensatz ist einzigartig und soll in der Zukunft auch im Sinne des Open Science-Gedankens mit anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern geteilt werden“, erläutert Prof. Christian Fiebach, der Sprecher der ARENA-Forschungsgruppe.
Doch zunächst dienen die erhobenen Daten den Modellierer:innen in der ARENA-Forschungsgruppe dazu, zu erforschen, ob sie KI-Systeme nach dem biologischen Vorbild des menschlichen Gehirns flexibler und effizienter machen können. Hierzu werden auch Erkenntnisse aus der Entwicklungspsychologie einbezogen. Umgekehrt möchten die Experimentator:innen von den Modellierer:innen neue Analysetechniken lernen, um ihre Modelle des Gehirns zu präzisieren. Oder anders gesagt: Wie lässt sich das neuronale Abbild der Orange im Gehirn besser entschlüsseln, und wie kann diese Erkenntnis dazu beitragen, KI-Modellen in der Zukunft ein menschenähnlicheres Wissen über die Orange zu vermitteln?