10. September 2025
Sehen lernen ist Teamarbeit
Internationales Forschungsteam untersucht das Sehen als Abstimmung vernetzter Neuronen.
Sehen ist mehr als Licht auf der Netzhaut – es ist ein fein abgestimmtes Zusammenspiel neuronaler Netzwerke. Eine Studie von Forschenden des Frankfurt Institute for Advanced Studies (FIAS) und internationaler Partner:innen zeigt, wie das Gehirn nach dem Augenöffnen lernt, visuelle Reize zuverlässig zu verarbeiten. Durch Erfahrung werden Eingangssignale präziser und stimmen sich zunehmend mit vernetzten Schaltkreisen ab – ein Prozess, der eindeutige Seheindrücke erst ermöglicht. Diese Kenntnisse können Künstliche Intelligenz (KI) und Therapien verbessern.
Wie das Gehirn lernt, die Welt zu sehen, war lange ein Rätsel. Frühere Studien deuteten darauf hin, dass die neuronalen Antworten bei Augenöffnung noch unreif und unkoordiniert sind. Die neue Arbeit von Forschenden am Max-Planck-Florida-Institut für Neurowissenschaften (MPFI) in enger Zusammenarbeit mit dem FIAS zeigt ein anderes Bild: Visuelle Erfahrung schärft nicht nur die eingehenden Signale, sondern stimmt sie auch präzise mit den vernetzten Schaltkreisen ab. So entsteht aus anfänglich variablen Mustern eine stabile, zeitlich kohärente Abbildung der visuellen Welt.
Das Team in Florida verfolgt diese Abstimmung in Frettchen– ideal, weil diese ihre Augen erst Wochen nach der Geburt öffnen. So lässt sich gezielt beobachten, wie visuelle Erfahrung die Entwicklung neuronaler Schaltkreise beeinflusst. Mit einer einzigartigen Kombination aus verschiedenen modernen Methoden - simultaner Elektrophysiologie, Kalzium-Imaging und Zell-Ableitungen - erfassen sie die Aktivität einzelner Neuronen und ganzer Netzwerke gleichzeitig.
Diese Kombination erlaubt es erstmals, die Aktivität einzelner Neuronen direkt mit den Aktivitätsmustern des Gehirns zu verknüpfen – ein Blick aus verschiedenen Winkeln auf die Entwicklung. Darauf basierend entwickelten Forschende aus der Gruppe von FIAS-Senior-Fellow Matthias Kaschube ein Computermodell, das die unterschiedlichen Beiträge der biologischen Prozesse entwirrt: Nur wenn sich im Laufe der Zeit sowohl die Präzision der Eingangssignale als auch ihre Abstimmung mit den vernetzten Netzwerken verbessern, entstehen eindeutige Seheindrücke. Diese methodische Breite – möglich durch die bewährte internationale Zusammenarbeit - erlaubt es, vom einzelnen Neuron bis zum Netzwerk und über verschiedene Schichten der Hirnrinde hinweg ein konsistentes Bild der Reifung zu zeichnen.
„Unsere Ergebnisse zeigen, dass das Gehirn beim Sehenlernen nicht einfach nur vorhandene Strukturen verfeinert“, sagt FIAS-Doktorandin Sigrid Trägenap, die das Modell mit entwickelt, „sondern es passt seine internen Netzwerke aktiv an die Welt an, die es wahrnimmt“. Damit demonstriert es eine Anpassungsfähigkeit, die zu den größten Stärken unseres Denkorgans zählt und künstliche Intelligenz bislang in den Schatten stellt.
Die Forschenden vermuten, dass die Entwicklung dieses Zusammenspiels ein Grundprinzip des Gehirns ist – weit über das visuelle System hinaus. Dies könnte erklären, wie das Gehirn in unterschiedlichen Sinnesbereichen und kognitiven Funktionen präzise und flexibel arbeitet. Das eröffnet neben neuen Perspektiven für die Grundlagenforschung auch Chancen für Anwendungen in der KI, die vom Gehirn durchaus noch lernen kann. Zudem sind die Erkenntnisse nützlich in der medizinischen Therapie, beispielsweise bei der Rehabilitation von Gehirnausfällen nach Schlaganfällen.
Publikation:
Augusto Abel Lempel, Sigrid Trägenap, Clara Tepohl, Matthias Kaschube und David Fitzpatrick. Development of coherent cortical responses reflects increased discriminability of feedforward inputs and their alignment with recurrent circuits. Neuron (2025). https://doi.org/10.1016/j.neuron.2025.08.014
