3. März 2020
Wie wir Sehen lernen!
Modell für eine einheitliche Erklärung für die Entwicklung des binokularen Sehens und deren Scheitern im Fall der Amblyopie.
Mit einem neuen Modell können Wissenschaftler des Frankfurt Institute for Advanced Studies (FIAS) und der Goethe-Universität die Entwicklung des Binokularsehens, also des gemeinsamen Sehens von rechtem und linken Auge, erklären. Dabei zeigen sie, wie es zu einer amblyopischen Sehschwäche kommen kann.
Wir betrachten die Welt mit unseren zwei Augen aus leicht verschiedenen Perspektiven. Die kleinen Unterschiede zwischen den Bildern, die dabei auf die linke und rechte Netzhaut projiziert werden, nutzt unser Gehirn, um räumlich zu sehen, d.h., die Welt dreidimensional zu interpretieren. Eine weitverbreitete frühkindliche Entwicklungsstörung ist jedoch die Amblyopie, von der bis zu 5 % aller Kinder betroffen sind. Sie führt zu Sehschwäche in einem Auge (in seltenen Fällen auch beiden Augen). Das Gehirn lernt dabei nicht, die beiden Augen korrekt zu koordinieren und die Bilder der beiden Augen dreidimensional zu interpretieren. Stattdessen treten die Augen in einen „Wettbewerb“, bei dem ein Auge das andere „unterdrückt“. Die Ursachen hierfür sind aber bisher kaum verstanden. Die Gruppe um FIAS Senior Fellow Prof. Dr. Jochen Triesch hat nun ein neues Computermodell der Entwicklung des binokularen Sehens vorgeschlagen. Das Modell erklärt, wie sich das präzise Binokularsehen unter gesunden Bedingungen selbstständig kalibriert. Darüberhinaus beschreibt es, warum sich im Falle von Brechungsfehlern eines Auges ein Amblyopie entwickelt. Interessanterweise zeigt das Modell auch Bedingungen auf, die für eine erfolgreiche Behandlung notwendig sind.
Neugeborene haben Schwierigkeiten, Objekte scharf zu stellen und können ihre Augen noch nicht präzise auf den gleichen Punkt ausrichten. So können sie auch die Bilder der beiden Augen noch nicht dreidimensional interpretieren. Wie Säuglinge die dafür benötigten Informationsverarbeitungs- und Kontrollmechanismen erlernen, ist derzeit unbekannt. In bestimmten Fällen kommt es außerdem vor, dass die Kalibrierung der Augenbewegungs- und Fokuskontrolle nicht korrekt erlernt wird. Die Anisometropie beschreibt beispielsweise einen Unterschied in der Brechkraft der Augen. Wenn dies nicht frühzeitig in der Entwicklung korrigiert wird, kann dies eine Amblyopie hervorrufen: Eine Störung des sich entwickelnden Sehsystems, die durch einen Unterschied der Sehschärfe beider Augen gekennzeichnet ist, der nicht sofort durch eine Korrektur der Brechkraft, z.B. durch eine Brille, behoben werden kann. Amblyopie kann mit einem Verlust des räumlichen Sehens verbunden sein und in schweren Fällen zu einseitiger Blindheit führen.
Die nun vorgestellte „Active Efficient Coding“-Theorie versucht den Lernmechanismus für das Binokularsehen zu erklären. Sie schlägt vor, dass das Gehirn sowohl die Augenbewegungen als auch die anschliessende Verarbeitung der Bilder der beiden Augen gleichzeitig optimiert, um die visuellen Eindrücke möglichst kompakt zu repräsentieren. Das funktioniert ähnlich wie ein Kompressionsalgorithmus, der eine Computerdatei komprimiert, jedoch werden hier durch das Erlernen koordinierter Augenbewegungen auch die Daten selbst optimiert. Unter gesunden Bedingungen kalibriert sich dadurch das Modell eigenständig, um die Augenbewegungen präzise zu koordinieren und die visuellen Sinneseindrücke dreidimensional zu interpretieren. Dabei entwickeln sich Nervenzellen, die kleine Unterschiede zwischen den Bilder der beiden Augen, sogenannte Disparitäten, registrieren. Diese nutzt das Modell, um die Augen auf den gleichen Punkt auszurichten. Im Fall der Anisometrie, bei der die Brechkraft der beiden Augen unterschiedlich ist, entwickelt sich im Modell jedoch ein amblyopieähnlicher Zustand, bei dem die Informationen des einen Auges nicht verarbeitet sondern unterdrückt werden. Dadurch entwickeln sich vornehmlich Nervenzellen, die nur Informationen des gesunden Auges verarbeiten. Es können kaum Disparitäten registriert werden. Die visuellen Sinneseindrücke können dadurch nicht mehr normal räumlich interpretiert werden. Darüberhinaus zeigt das Modell, dass eine Heilung dieses Zustands nur dann möglich ist, wenn die Nervenzellen noch in der Lage sind, ihre Verarbeitung der Sinneseindrücke zu verändern, einen Prozess den man als Plastizität bezeichnet. Insgesamt bietet das Modell eine einheitliche Erklärung für die Entwicklung des binokularen Sehens und deren Scheitern im Fall der Amblyopie.
Weitere Informationen und Kontakt:
Kontakt: Prof. Dr. Jochen Triesch, Frankfurt Institute for Advanced Studies und Fachbereich Physik und Fachbereich Informatik und Mathematik, Goethe-Universität Frankfurt, Campus Riedberg, Tel. 069 798 47531, triesch_at_fias.uni-frankfurt.de.
Publikation:
Active efficient coding explains the development of binocular vision and its failure in amblyopia
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Proceedings of the National Academy of Sciences Mar 2020, 201908100; DOI:10.1073/pnas.1908100117